Superfluide Überraschung
Forschende des Instituts für Quantenelektronik und des Quantum Center untersuchten Teilchen- und Entropieströme zwischen zwei miteinander verbundenen, superfluiden Reservoirs und fanden unerwartete Hinweise auf einen irreversiblen und verstärkten Entropietransport.
Laborexperimente, die im frühen zwanzigsten Jahrhundert durchgeführt wurden, führten zur Entdeckung der Supraleitung und Superfluidität; zwei Phänomene, die seither Generationen von Wissenschaftlern beschäftigt haben. In einem Suprafluid fliessen die Atome ohne Reibung und mit einer Viskosität von nahezu Null. Die erste Beobachtung von Superfluidität betraf flüssiges Helium-4, das auf eine Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt abgekühlt war; später trat Helium-3 als unkonventionelles Superfluid in den Vordergrund, das ein grösseres Feld für die Erforschung bietet. Heute wird superflüssiges Helium üblicherweise zur Kühlung anderer physikalischer Systeme verwendet, darunter die supraleitenden Magneten des Large Hadron Collider am CERN.
Kurz nach der Veröffentlichung der ersten Daten über flüssiges Helium-4, schlug der Physiker Fritz London vor, dass die beobachtete Superfluidität auf die Bose-Einstein-Kondensation (BEC) zurückzuführen sein könnte; ein Prozess, bei dem viele Bosonen einen einzigen Quantenzustand einnehmen und ein Kondensat bilden. Die Vermutung war umstritten und es folgte eine Zeit intensiver theoretischer Arbeit über Supraleitung und Superfluidität. Mit der von John Bardeen, Leon N. Cooper und John R. Schrieffer (BCS) entwickelten Theorie der Supraleitung, gelang es zu erklären, wie nicht nur Bosonen sondern auch Fermionen, z.B Elektronen in einem Supraleiter, in einer Kondensat-Phase existieren können. Nämlich indem sie zusammengesetzte Teilchen bilden - Paare von Fermionen mit entgegengesetztem Spin - die sich wie Bosonen verhalten. Um solche Verbundteilchen zu bilden, müssen Fermionen miteinander wechselwirken, auch wenn die Stärke der Wechselwirkung nicht gross sein muss. Im Grenzfall der schwachen Kopplung, der für konventionelle Supraleiter gilt, ist die Grösse eines Fermionenpaares viel grösser als der typische Abstand zwischen zwei benachbarten Teilchen. Im Gegensatz dazu gibt es fermionische Supraleiter, bei denen diese beiden Grössen die gleiche Grössenordnung haben.
Die Möglichkeit, ultrakalte Gase aus gefangenen fermionischen Atomen zu erzeugen und zu untersuchen, eröffnete wichtige experimentelle Wege zur Superfluidität. In diesen Systemen kann die Stärke der Wechselwirkung zwischen den Teilchen durch ein angelegtes Magnetfeld eingestellt werden. Ein fermionisches Gas mit starken Wechselwirkungen und einer divergierenden Streulänge - die eine starke Kopplung gewährleistet - wird als unitäres Fermi-Gas bezeichnet. Im Institut für Quantenelektronik untersuchten Dr. Philipp Fabritius, Dr. Jeffrey Mohan und Kollegen aus der Gruppe Quantum Optics von Professor Tilman Esslinger zwei superfluide unitäre Fermi-Gase, die durch einen ballistischen Kanal verbunden sind. Ihre Ergebnisse, die soeben in Nature Physics veröffentlicht wurden, zeigen grosse Ströme von Teilchen und Entropie durch den Kanal. Die Entropie, die im Durchschnitt von jedem fliessenden Teilchen transportiert wird, ist wesentlich grösser als der Wert, der von der Theorie der superfluiden Hydrodynamik erwartet wird, und hängt nicht von der Geometrie des Kanals ab. Bemerkenswerterweise schliessen die Forschenden aus den Daten, dass Superfluidität den Entropietransport in ihrem System erhöht.
Man beobachtet nicht das, was man erwartet
Das von Fabritius und Kollegen betrachtete System ist eine Mischung aus zwei Hyperfein-Grundzuständen von Lithium-6-Atomen, die magnetisch und optisch in allen drei Raumrichtungen gefangen sind. Diese gefangene Atomwolke wird dann in zwei Reservoirs aufgeteilt, die durch einen Kanal mit variabler Breite verbunden sind. Der Ausgangszustand des Systems ist durch eine gleichbleibende Gesamtatomzahl und -energie gekennzeichnet; Ungleichgewichte in der Atomzahl und der Entropie führen zu Verzerrungen des chemischen Potenzials und der Temperatur. Teilchen- und Entropieströme können experimentell verfolgt werden, indem die bekannten Zustandsgleichungen auf jedes Reservoir zu verschiedenen Zeitpunkten angewendet werden. Es wurde festgestellt, dass sowohl Teilchen- als auch Entropieströme nichtlinear auf das chemische Potenzial und die Temperaturveränderungen reagieren. Die Forschenden dokumentierten, was mit dem System geschah während es sich durch den Zustandsraum bewegte. Es wurde festgestellt, dass die Entropieproduktionsrate strikt positiv ist: Das bedeutet, dass der beobachtete Teilchen-, Energie- und Entropietransport irreversibel ist und so lange andauert, bis das System einen Endzustand erreicht, der sich im oder weit entfernt vom Gleichgewicht befindet. Das Team konnte die Entropieproduktion auf die inhärent irreversible Natur des Transportphänomens zurückführen, da sich ihr Aufbau wie ein geschlossenes System verhält.
Die von Fabritius und Kollegen gesammelten experimentellen Daten zeigen, dass die pro Teilchen transportierte Entropie positiv ist und dass der Entropiestrom proportional zum Teilchenstrom ist. Letzterer wird durch die Superfluidität verstärkt, was folglich auch zu einem Anstieg des Entropiestroms führt. «In dieser Art von Quantensystem, unter wohldefinierten Bedingungen, standen wir vor einem überraschenden Ergebnis – das ist selten», sagt Esslinger. Wenn der Fluss zwischen den beiden Reservoiren nicht reversibel und nicht entropiefrei ist, könnte man versucht sein, die superfluide Natur des ultrakalten Gases aus Lithium-6-Atomen in Frage zu stellen. Diese Schlussfolgerung könnte jedoch zu stark sein. So können beispielsweise dissipative superleitende Systeme bei Vorhandensein einer superleitenden Ordnung normale Ströme aufnehmen.
Offene Fragen bieten Chancen
Angesichts des überraschenden Ergebnisses entwickelte das Team ein phänomenologisches Modell, das auf einem Formalismus basiert, der allgemeine irreversible und nichtgleichgewichtige Prozesse erfasst. Das Modell beschreibt erfolgreich die Beobachtungen, obwohl es nicht so weit gehen kann, den mikroskopischen Ursprung der gemessenen, pro Teilchen transportierten Entropie zu erklären. Esslinger und seine Gruppe hoffen, dass ihre Daten und ihr Modell die Entwicklung einer mikroskopischen Theorie für Nicht-Gleichgewichtsphänomene in dieser Art von superflüssigem System unterstützen werden. In der Zwischenzeit hat das Team einige mögliche Richtungen ermittelt, die es zu erforschen gilt. Eine davon ist die Andreev-Mehrfachreflexion (MAR), die in Supraleitern als Elektron-Loch-Reflexion bekannt ist und auf mikroskopischer Ebene das Entstehen eines Superstroms zwischen zwei gekoppelten Supraleitern einfängt (siehe die Animation am Ende dieses Abschnitts). Eine andere Richtung wäre, die Diskontinuitäten – oft als ‹phase slips› bezeichnet – in dem Ordnungsparameter, der die Superfluide charakterisiert, weiter zu untersuchen.
Das Team hat bereits neue Daten über den so genannten BCS-BEC-Übergang gesammelt, der im Lithium-6-Superfluid beobachtet wurde. In der Tat ist ein einheitliches Fermi-Gas «ein stark wechselwirkendes Vielkörperproblem, das genau auf halbem Weg, zwischen den gut verstandenen BCS- und BEC-Grenzenfällen liegt», schrieb der Theoretiker Wilhelm Zwerger – ein Mitautor der Arbeit und langjähriger Kollege der Esslinger-Gruppe – in seinem Ausblick auf den Artikel, in dem die Zustandsgleichung für ein ultrakaltes Lithium-6-Gas wie das hier betrachtete vorgestellt wurde. Der BCS-BEC-Übergang beschreibt, wie ein wechselwirkendes Fermi-Gas vom BCS-Zustand schwach wechselwirkender Fermionenpaare in den BEC-Zustand zweiatomiger Moleküle übergehen kann.
Esslinger glaubt, dass Lithium-6 ein grosses Potenzial für neue Beobachtungen und bessere mikroskopische Theorien für supraleitende und superflüssige Systeme bietet: Die Gewinnung der in der Arbeit vorgestellten Daten war nur möglich, weil Lithium-6 ein so robustes, kontrollierbares System ist. «Lithium-6 ist ein Geschenk der Natur», sagt Esslinger. In diesem, wie auch in anderen Bereichen der Physik, sind experimentelle Untersuchungen ein wichtiger Input für theoretische Fortschritte. Die Untersuchung des Entropietransports in Superflüssigkeiten könnte auch klären, was in Festkörpersystemen passiert, wo es keinen direkten Zugang zur Entropie gibt.
Übersetzt aus dem Englischen von Kilian Kessler
Literaturhinweis
Fabritius, P., Mohan, J., Talebi, M., Wili, S., Zwerger, W., Huang, M.-Z. & Esslinger, T. Irreversible entropy transport enhanced by fermionic superfluidity. Nat. Phys. (2024). externe Seite DOI:10.1038/s41567-024-02483-3