Lang lebe der Graphen-Tal-Zustand
Forscher des Labors für Festkörperphysik der ETH Zürich fanden Hinweise darauf, dass zweischichtige Graphen-Quantenpunkte eine vielversprechende neue Art von Quantenbits beherbergen könnten, die auf sogenannten Tal-Zuständen basieren.
In der Quanteninformatik steht die Frage, welches physikalische System und welche Freiheitsgrade innerhalb dieses Systems zur Kodierung von Quanteninformationsbits – kurz Qubits – verwendet werden können, im Mittelpunkt vieler Forschungsprojekte in Physik- und Ingenieurlabors. Supraleitende Qubits, Spin-Qubits und Qubits, die in der Bewegung gefangener Ionen kodiert sind, gelten bereits weithin als Hauptkandidaten für künftige praktische Anwendungen von Quantencomputern. Andere Systeme müssen noch besser verstanden werden und bieten daher eine anregende Grundlage für grundlegende Untersuchungen.
Dr. Rebekka Garreis, Dr. Chuyao Tong, Dr. Wister Huang und ihre Kollegen aus der Gruppe der Professoren Klaus Ensslin und Thomas Ihn vom Departement Physik der ETH Zürich, haben Quantenpunkte aus Doppelschicht-Graphen (Bilayer Graphene, BLG) untersucht, die als potenzielle Plattform für Spin-Qubits bekannt sind, um herauszufinden, ob ein weiterer Freiheitsgrad von BLG zur Verschlüsselung von Quanteninformation genutzt werden kann. Ihre neuesten Ergebnisse, die soeben in Nature Physics veröffentlicht wurden, zeigen, dass der so genannte Tal-Freiheitsgrad in BLG mit Quantenzuständen verbunden ist, die extrem langlebig sind und daher als zusätzliche Ressource für Festkörper-Quantencomputer in Betracht gezogen werden sollten.
Die Gitterstruktur macht's
Graphen ist ein zweidimensionales Material, das aus einer einzigen Schicht von Kohlenstoffatomen besteht, die in einer hexagonalen Gitterstruktur gebunden sind. Sein blattartiges Aussehen täuscht, denn Graphen gehört zu den stärksten Materialien der Erde; seine mechanischen und elektronischen Eigenschaften sind für viele Industriezweige von grossem Interesse. Bei zweischichtigem Graphen, dem von den Forschern verwendeten System, liegen zwei Schichten von Kohlenstoffatomen übereinander. Sowohl Graphen als auch BLG sind Halbmetalle, da ihnen die charakteristische Energiebandlücke fehlt, die man bei Halbleitern und vor allem bei Isolatoren findet. Dennoch kann bei BLG eine abstimmbare Bandlücke erzeugt werden, indem ein elektrisches Feld senkrecht zur Ebene der Schichten angelegt wird.
Die Öffnung einer Bandlücke ist notwendig, um BLG als Trägermaterial für Quantenpunkte zu verwenden, bei denen es sich um nanometergrosse ‹Kästen› handelt, in denen einzelne oder wenige Elektronen eingeschlossen werden können. Quantenpunkte, die in der Regel in Halbleiter-Wirtsmaterialien hergestellt werden, bieten eine hervorragende Kontrolle über einzelne Elektronen. Aus diesem Grund sind sie eine wichtige Plattform für Spin-Qubits, also Systeme, bei denen die Quanteninformation im Spin-Freiheitsgrad des Elektrons kodiert ist.
Da Quanteninformation viel anfälliger dafür ist, durch die Umgebung verfälscht zu werden – und damit für Rechenaufgaben ungeeignet zu werden – als ihr klassisches Gegenstück, müssen Forscher, die verschiedene Qubit-Kandidaten untersuchen, deren Kohärenz-Eigenschaften charakterisieren: Diese sagen ihnen, wie gut und wie lange Quanteninformation in ihrem Qubit-System überleben kann. In den meisten herkömmlichen Quantenpunkten kann die Dekohärenz des Elektronenspins durch die Spin-Bahn-Wechselwirkung verursacht werden, die eine unerwünschte Kopplung zwischen dem Elektronenspin und den Schwingungen des Wirtsgitters bewirkt, sowie durch die Hyperfeinwechselwirkung zwischen dem Elektronenspin und den umgebenden Kernspins. In Graphen und anderen kohlenstoffbasierten Materialien sind sowohl die Spin-Bahn-Kopplung als auch die Hyperfeinwechselwirkung schwach ausgeprägt, was Graphen-Quantenpunkte für Spin-Qubits besonders interessant macht. Die von Garreis, Tong und Co-Autoren berichteten Ergebnisse fügen dem Bild eine weitere vielversprechende Facette hinzu.
Das hexagonale Gitter von BLG kann mit speziellen Mikroskopietechniken abgebildet werden. Die in diesem so genannten realen Raum beobachtete hexagonale Symmetrie ist auch im Impulsraum vorhanden, wo die Eckpunkte des Gitters nicht den räumlichen Positionen der Kohlenstoffatome entsprechen, sondern den mit den freien Elektronen auf dem Gitter verbundenen Impulswerten. Im Impulsraum befinden sich die freien Elektronen an den lokalen Minima und Maxima der Energielandschaft, d. h. an den Punkten, an denen sich die Leitungs- und Valenzbänder treffen. Diese Energieextrema werden als Täler bezeichnet. In BLG diktiert die hexagonale Symmetrie die Existenz von zwei entarteten Energietälern (d. h., sie sind durch dieselbe Elektronenenergie gekennzeichnet), die entgegengesetzten Elektronenimpulswerten entsprechen. Dieser Tal-Freiheitsgrad kann in ähnlicher Weise behandelt werden wie der Elektronenspin in BLG – tatsächlich werden Täler in Graphen allgemein als Pseudospins bezeichnet. Obwohl die Talzustände in zweischichtigem Graphen bereits bekannt waren, blieb ihre Eignung als praktische Qubits bisher unklar.
Das Tal ist sehr vielversprechend
Garreis, Tong und Mitarbeiter betrachteten einen doppelten Quantenpunkt – d. h. zwei Punkte mit abstimmbarer Kopplung – in BLG und massen die Relaxationszeit für Tal- und Spinzustände. Die Relaxationszeit gibt die zeitliche Skala an, über die das System von einem Tal- oder Spinzustand in einen anderen übergeht und durch den Relaxationsprozess seine Energie verliert und für weitere Qubit-Operationen ungeeignet wird. Das Forscherteam stellt fest, dass Tal-Zustände Relaxationszeiten von mehr als einer halben Sekunde aufweisen, ein Ergebnis, das auf vielversprechende Kohärenz-Eigenschaften für künftige Tal-Qubits hinweist. Die Messung der Spin-Relaxationszeit im BLG-Doppelquantenpunkt ergibt einen Wert von unter 25 ms, was viel kürzer ist als die Relaxationszeit für Tal-Zustände, aber in guter Übereinstimmung mit Spin-Relaxationszeiten steht, die in Halbleiter-Quantenpunkten gemessen wurden. Wichtig ist, dass beide Werte für eine hochwertige Qubit-Manipulation und -Auslesung akzeptabel sind.
In dem Papier heben die Forscher auch Aspekte hervor, die eine weitere experimentelle und theoretische Untersuchung erfordern. Sie präsentieren Daten, die die Abhängigkeit der Relaxationszeiten für Spin- und Tal-Zustände von zwei Parametern zeigen, von denen angenommen wird, dass sie eine Rolle bei der Relaxationsdynamik der Zustände spielen. Ein Parameter ist die energetische Verstimmung, d. h. der Energieunterschied zwischen den Grundzuständen zweier unterschiedlicher Konfigurationen des Doppelquantenpunkts. Eine Veränderung der Verstimmung bedeutet, dass man auf den Energieunterschied zwischen den am Relaxationsprozess beteiligten Zuständen einwirkt. Der andere Parameter wird als Inter-Dot-Kopplung bezeichnet und bestimmt, wie leicht ein Elektron in einem Quantenpunkt in das Gebiet des anderen Punktes ‹eindringen› kann. Die Autoren berichten von Verhaltensweisen, die nicht durch die Mechanismen erklärt werden können, die normalerweise bei Quantenpunkt-Spin-Qubits im Spiel sind. Es zeigt sich, dass die Relaxationszeit mit höherer Energieverstimmung zunimmt, was nicht mit Beobachtungen in anderen Systemen übereinstimmt. Bemerkenswerterweise bleibt die Relaxationszeit im Tal unbeeinflusst, wenn man die Kopplung zwischen den Punkten variiert.
Es ist klar, dass ein umfassenderes Verständnis der Mechanismen, die die Tal- und Spin-Relaxationszeiten beeinflussen, erforderlich ist, um herauszufinden, welche Variablen für die Manipulation künftiger Tal-Qubits am besten geeignet sind. In der Zwischenzeit sprechen die von Garreis, Tong und ihren Kollegen vorgestellten Ergebnisse dafür, die Landschaft der Festkörper-Quantencomputer um Valley-Zustände in BLG-Quantenpunkten zu erweitern.
Aus dem Englischen übersetzt von Kilian Kessler
Literaturhinweis
Garreis, R., Tong, C. et al. Long-lived valley states in bilayer graphene quantum dots. Nat. Phys. 20, 428-434 (2024). externe Seite DOI:10.1038/s41567-023-02334-7