Weyl Händigkeit zählt
Weyl-Fermionen — Quasiteilchen, die sich wie masselose Fermionen verhalten — standen in den vergangenen Jahren im Mittelpunkt einer Reihe von Arbeiten in der Festkörperphysik. Die Gruppe von Sebastian Huber hat nun Experimente durchgeführt, in denen sie zeigen, wie die beiden chiralen Varianten von Weyl-Fermionen getrennt voneinander gehandhabt werden können
„In meiner Arbeit habe ich immer versucht, das Wahre mit dem Schönen zu vereinen; wenn ich mich für das Eine oder das Andere entscheiden musste, habe ich stets das Schöne gewählt.“ Dieses Zitat schmückt die Wand einer Nische im Hermann-Weyl-Zimmer im Hauptgebäude der ETH Zürich, hinter einer Skulptur des deutschen Mathematikers, Physikers und Philosophen, der von 1913 bis 1930 Professor für Höhere Mathematik an der ETH war. Während dieser Zeit — aber als er das akademische Jahr 1928–1929 in Princeton (USA) verbrachte — schuf Weyl ein aussergewöhnliches Geisteskind, das in den vergangenen Jahren eine Renaissance erlebt hat: eine relativistische Wellengleichung zur Beschreibung von masselosen Spin-1/2-Teilchen, die heute als Weyl-Fermionen bekannt sind. In einer heute in der Fachzeitschrift Nature Physics publizierten Arbeit berichten Valerio Peri und sein Kollege Marc Serra-Garcia aus der Gruppe von Sebastian Huber am Institut für Theoretische Physik der ETH Zürich, gemeinsam mit Roni Ilan von der Universität Tel-Aviv (Israel), wie sie ein faszinierendes und konzeptionell weitreichendes Merkmal von Weyls altehrwürdiger Theorie experimentell ausnutzen konnten: Sie haben ein Hintergrundfeld erzeugt, das in verschiedener Weise an Weyl-Fermionen entgegengesetzter Händigkeit koppelt.
Weyl-Fermionen hatten ihren Ursprung in der Beschreibung relativistischer Teilchen, aber Weyl hat das Interesse an dieser seiner Schöpfung verloren, nicht zuletzt, da seine masselosen Fermionen niemals als grundlegende Teilchen in der Natur beobachtet wurden. Heute wissen wir jedoch, dass Weyl-Fermionen als kollektive Anregungen, sogenannte Quasiteilchen, in Vielkörpersystemen auftreten. Dies wurde 2015 erstmals experimentell in einem kristallinen Material realisiert, in dem Weyl-Fermionen als spezifische Punkte in der elektronischen Bandstruktur erscheinen. Es hat sich gezeigt, dass solche „Weyl-Punkte“ auch in periodischen Strukturen zu Tage treten, die mit klassischen Wellen wechselwirken, insbesondere mit elektromagnetischen Wellen (in photonischen Kristallen) und mit akustischen Wellen (in Phononenkristallen). Peri und Mitarbeiter nutzten die letztere Plattform, die in ihrem Fall aus 4800 sorgfältig entworfenen, 3D-gedruckten Elementarzellen besteht, die in einer dreidimensionalen Struktur angeordnet sind (siehe obige Abbildung), in der sie mit Schallwellen interagieren, die sich in der Luft ausbreiten.
Dass solche „akustische Metamaterialien“ geeignete Plattformen sind, um die Physik der Weyl-Gleichung zu erforschen, dies wurde bereits in früheren Arbeiten gezeigt. Die ETH-Forscher fügten nun aber eine wichtige neue Komponente hinzu: Sie konstruierten ein Hintergrundfeld, das mit den akustischen Weyl-Fermionen in einer ähnlicher Weise wechselwirkt wie dies ein Magnetfeld mit Elektronen in einem Kristall tut. Schallwellen tragen aber keine Ladung und sind daher gegenüber magnetischen Feldern inert; deshalb mussten Peri et al. auf andere Mittel zurückgreifen. Sie passten die Geometrie der Elementarzellen geringfügig an, so dass die räumliche Position, an welcher die Weyl-Punkte (im Impulsraum) erscheinen, variiert. Durch diese Änderung verhält sich das akustische System wie ein elektronisches System, das in ein Magnetfeld eingetaucht ist — mit einem wichtigen Unterschied. Sie haben das Hintergrundfeld so gestaltet, dass es verschieden an die beiden Arten koppelt, in denen Weyl-Fermionen vorkommen: Die, deren intrinsischer Drehimpuls (oder Spin) parallel zu ihrem linearen Impuls ausgerichtet ist, und die, in denen die Ausrichtung antiparallel ist. Mit anderen Worten, die Kopplung ist unterschiedlich, je nach Händigkeit (oder Chiralität) des Teilchens.
Die Realisierung eines Hintergrundfeldes, das verschiedene Händigkeiten unterscheidet, ist ein wichtiger Schritt. Der Grund dafür hat damit zu tun, weshalb die Weyl-Fermionen in ihrem ursprünglichen Kontext, der Teilchenphysik, von Interesse sind. Wenn Fermionen unterschiedlicher Händigkeit unabhängig voneinander gehandhabt werden können, dann können klassische Erhaltungssätze auf der Quantenebene verletzt werden, wenn beispielsweise die Ladung für Fermionen einer bestimmten Chiralität nicht erhalten bleibt. Ein solches Verhalten führt zu einem Phänomen, das als „chiralen Anomalie“ bekannt ist. Diese wiederum könnte der Schlüssel zum Verständnis von zentralen Merkmalen des Standardmodells der Teilchenphysik sein.
Peri und seine Kollegen haben mit ihrer Arbeit die Existenz verschiedener „chiraler Kanäle“ nachgewiesen, die ihnen den unabhängigen Zugang zu Weyl-Fermionen entgegengesetzter Händigkeit in einem dreidimensionalen System ermöglichen. (Ähnliche Ergebnisse wurden zuvor für elektronische Systeme in zwei Dimensionen erzielt.) Dieses Verhalten ist tief verwurzelt in der Theorie der Hochenergiephysik, wurde nun aber mit niederenergetischen Schallwellen verwirklicht, die mit einem Festkörpersystem wechselwirken. Diese Plattform sollte es ermöglichen, eine Vielzahl an theoretisch vorhergesagten Phänomenen zu untersuchen, die mit Weyl-Fermionen zusammenhängen. Diese Untersuchungen könnten dann ihrerseits dazu beitragen, die „Weyl-Physik“ in technologischen Bereichen zu nutzen, sei es in der Akustik oder in der Elektronik — aber ohne dabei das zugrunde liegende „Schöne“, das Hermann Weyl leitete, aus den Augen zu verlieren.
Literaturhinweis
Peri V, Serra-Garcia M, Ilan R, Huber SD. Axial-field-induced chiral channels in an acoustic Weyl system. Nature Physics externe Seite doi: 10.1038/s41567-019-0415-x (2019). externe Seite Kostenfrei zugängliche Version