Zusammenbruch des topologischen Schutzes durch Vakuumfluktuationen
- Institute for Quantum Electronics (IQE)
- Quantenwissenschaften
Ein charakteristisches Merkmal sogenannter topologischer Quantenzustände ist, dass sie gegen lokale Störungen geschützt sind. ETH-Forschende zeigen nun, dass im paradigmatischen Fall des integralen Quanten-Hall-Effekts Vakuumfluktuationen einen Zusammenbruch des topologischen Schutzes verursachen können.
"Bis 1980 hat niemand erwartet, dass es einen Effekt wie den quantisierten Hall-Effekt gibt, der ausschliesslich von fundamentalen Konstanten abhängt und nicht durch Unregelmässigkeiten im Halbleiter wie Verunreinigungen oder Grenzflächeneffekte beeinflusst wird." So sprach der deutsche Physiker Klaus von Klitzing bei der Verleihung des Nobelpreises für Physik 1985. Er wurde für seine Entdeckung einer quantisierten Version des Hall-Effekts in zweidimensionalen Elektronengasen im Jahr 1980 ausgezeichnet. Die unerwartete Robustheit des "integralen Quanten-Hall-Effekts", wie er bekannt geworden ist, ermöglichte von Klitzings Entdeckung überhaupt erst. Er arbeitete nämlich mit Halbleitern – Materialien, die bekanntermassen von "Unregelmässigkeiten" geplagt sind. Dabei beobachtete er aber dennoch eine erstaunlich "saubere" Quantisierung der Hall-Leitfähigkeit. Die Tatsache, dass solche Quantensysteme so gut gegen lokale Störungen geschützt sind, wurde später im Rahmen der topologischen Eigenschaften elektronischer Vielteilchenzustände erklärt. Aber dieser Schutz kann auf unerwartete Weise zusammenbrechen, wie die Gruppe von Prof. Jérôme Faist am Institut für Quantenelektronik jetzt berichtet. In der Fachzeitschrift Science [1] stellen sie Experimente vor, bei denen sie gefunden haben, dass wenn ein Quanten-Hall-System den stark verstärkten Quantenvakuumfluktuationen eines engen Hohlraums ausgesetzt wird, Quantenzustände wesentlich modifiziert werden können. Ein solches "Vakuumfeld-Engineering" könnte zu neuen experimentellen Möglichkeiten führen, aber auch ungewollt unerwünschte Störungen bei Experimenten mit zweidimensionalen Materialien und Resonatoren verursachen.
Kontrolle durch Vakuumfeld-Engineering
Dass "leerer" Raum mit elektromagnetischen Vakuumfluktuationen gefüllt ist, ist einer der faszinierendsten Aspekte der Quantenfeldtheorien. Manifestationen von Vakuumfeldern werden seit langem experimentell beobachtet, zum Beispiel in Form von spontaner Emission, der Lamb-Verschiebung und dem Casimir-Effekt. Aber erst in den letzten Jahren ist es gelungen, diese Felder direkt zu messen. Ein prominentes Beispiel sind Arbeiten der Faist-Gruppe aus dem Jahr 2019, in denen sie die spektralen Eigenschaften von Vakuumfeldfluktuationen bestimmt haben [2]. Eine faszinierende Frage, die sich aus dieser Arbeit ergab – in Zürich und anderswo – war, ob Vakuumfelder genutzt werden könnten, um die Eigenschaften von Materialien kontrolliert zu verändern. In früheren Arbeiten hat eine Kollaboration von ETH-Physikerinnen und -Physikern entsprechende Hinweise gefunden, als sie den Magneto-Transport in einem Halbleitermaterial gemessen haben, das mit einem Hohlraum gekoppelt war [3]. In diesen Experimenten hingen die Signaturen der Veränderung jedoch von der Probe selbst ab. Um Situationen in denen die Eigenschaften durch Vakuumfelder verändert wurden mit dem "unveränderten" Szenario zu vergleichen, mussten verschiedene physikalische Proben gemessen werden.
Nun hat sich der Doktorand Felice Appugliese, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen in der Faist-Gruppe, einem System im integralen Quanten-Hall-Bereich zugewandt, bei dem topologischer Schutz für Robustheit sorgt und somit eine gewisse Unabhängigkeit von der verwendeten Probe bringt. In ihren Experimenten positionierten sie Hall-Balken-Proben in einem optischen Nanohohlraum, dessen Abmessungen deutlich unter der Wellenlänge des verwendeten Lichts liegen. Solche Hohlräume vermitteln eine sehr starke Kopplung zwischen Licht- und Materiezuständen und stellen somit eine hochempfindliche optische Sonde für Quanten-Vielteilchenzustände dar. In den vergangenen zehn Jahren hat das Team um Faist und Giacomo Scalari, jetzt Titularprofessor in der Gruppe, solche Hohlräume (sogenannte Spaltringresonatoren) perfektioniert, um rekordhohe Kopplungen zwischen Licht und Materie zu erreichen. Wichtig ist, dass im engen Spalt des Resonators auch die Fluktuationen des Vakuumfeldes verstärkt werden, was es ermöglicht, deren Wirkung auf die Materie zu erhöhen und "Vakuumfeld-Engineering" zu betreiben.
Aus dem Tritt
Für einen direkten Vergleich haben Appugliese et al. eine Referenzprobe ohne Hohlraum und eine Probe mit Hohlraum auf demselben Chip hergestellt und getestet. Bei der Referenzprobe massen sie die klare treppenförmige Abfolge breiter Plateaus im Widerstand, wie sie erstmals von Klitzing beobachtet hat. In der Probe mit Hohlraum sahen sie jedoch unverkennbare Abweichungen von dieser Quantisierung (siehe Abbildung). Diese lassen sich im Rahmen einer Theorie ihres Kollegen Cristiano Ciuti von der Universität Paris erklären. Im Wesentlichen vermittelt der Hohlraum eine langreichweitige Dynamik, bei der letztlich entgegengesetzte Randzustände gekoppelt werden, wodurch sich ein Kanal öffnet, durch den ein Elektron gestreut werden kann. Dies wiederum bricht den topologischen Schutz; im Gegensatz dazu können kurzreichweitige Wechselwirkungen wie Verunreinigungen keine Streuung erzeugen.
Appugliese und Kollegen gingen noch einen Schritt weiter und modifizierten das Feld im Inneren des Resonators mit einer metallischen Oberfläche, die sie in unterschiedlichen Abständen zur Probe platzierten. Auf diese Weise konnten sie nicht nur eine vakuumfeldinduzierte Modifikation des Quanten-Hall-Zustands ohne eine Referenzprobe nachweisen, sondern auch zeigen, wie topologische Quanten-Vielteilcheneffekte kontrolliert modifiziert werden können. Diese Ergebnisse sind auch ein Hinweis darauf, dass Plattformen, die zweidimensionale Materialien und Resonatorstrukturen kombinieren – diese werden in verschiedenen Bereichen der Physik zunehmend eingesetzt – anfällig auf unerwünschte Interferenzeffekte sein könnten. Diese Warnung könnte sich auch auf Situationen ohne Hohlräume erstrecken. Quanten-Hall-Proben dienen dank ihrer exakten Quantisierung als Standard für den elektrischen Widerstand (das Widerstandsquantum ist als von-Klitzing-Konstante bekannt) und als hochpräzise Sonde für fundamentale Konstanten. Da der freie Raum von Vakuumfluktuationen durchdrungen ist, ist es denkbar, dass diese Felder letztlich die Präzision solcher Hochpräzisionsmessungen begrenzen.
Literaturhinweise
- Appugliese F, Enkner J, Paravicini-Bagliani GL, Beck M, Reichl C, Wegscheider W, Scalari G, Ciuti C, Faist J: Breakdown of the topological protection by cavity vacuum fields in the integer quantum Hall effect. Science 375, 1030 (2022). externe Seite DOI: 10.1126/science.abl5818
- Benea-Chelmus I-C, Settembrini FF, Scalari G, Faist J: Electric field correlation measurements on the electromagnetic vacuum state. Nature 568, 202 (2019). externe Seite DOI: 10.1038/s41586-019-1083-9
- Paravicini-Bagliani GL, Appugliese F, Richter E, Valmorra F, Keller J, Beck M, Bartolo N, Rössler C, Ihn T, Ensslin K, Ciuti C, Scalari G, Faist J: Magneto-transport controlled by Landau polariton states. Nature Physics 15, 186 (2019). externe Seite DOI: 10.1038/s41567-018-0346-y