Risiken messen

Ein Interview mit D-PHYS-Absolventen Dr. Szymon Hennel, ehemaliger Risikomodellentwickler bei UBS.

Welche Überlegungen und Entscheidungen führten Sie zu Ihrer Tätigkeit im Finanzsektor?

Ich bin direkt nach meinem Doktorat bei UBS eingestiegen. Ich gehörte zu einem Team, das Modelle zur Berechnung der erwartenden finanziellen Verluste bei verschiedenen wirtschaftlichen Krisenszenarien entwickelt. Das ist ein Prozess, der als Stresstest bekannt ist. Ziel ist es, sicherzustellen, dass Banken ihre Geschäfte so führen, dass sie ihre Dienstleistungen auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten zuverlässig erbringen können.

Als ich mein Physikstudium begann, dachte ich, ich würde Forscher werden und mich mit grundlegenden Fragen zur Natur des Universums beschäftigen. Gleichzeitig hatte ich mich schon immer zur Informationstechnologie hingezogen gefühlt: Zu meinen Hobbys als Teenager gehörten das Programmieren und das Optimieren von Linux-Systemen. Wie vielleicht vorauszusehen war, erregte der Aufstieg der Quanteninformationsverarbeitung als wichtiges Forschungsgebiet in der Physik meine Aufmerksamkeit und lenkte mein Interesse auf angewandte Themen in der Physik. Ziel meiner Doktorarbeit war es, theoretische Vorhersagen zu überprüfen, die besagen, dass eine bestimmte Art von Halbleiter, der hohen Magnetfeldern ausgesetzt ist, für die erste praktische Demonstration eines fehlertoleranten topologischen Qubits verwendet werden könnte. Obwohl mein Projekt durch ein grosses Ziel motiviert war, das enorme technologische Auswirkungen haben würde, drehte sich meine tägliche Arbeit um Spezialthemen, die nur für wenige Experten weltweit von Interesse waren. Das ist in der wissenschaftlichen Forschung nicht ungewöhnlich und kam nicht überraschend. Am Ende meiner Promotion stellte ich aber fest, dass sich die Konzentration auf ein Thema von rein akademischem Interesse ganz anders anfühlte als der Lernprozess während meines Bachelors und Masters: Der enge thematische Fokus gefiel mir nicht mehr so gut.

Für meinen nächsten beruflichen Schritt konnte ich mir zwei Optionen vorstellen. Die eine wäre, als Postdoktorand in die Forschung zu gehen, zu dem, was man heute Quanten-Engineering nennt, und in grösseren, industrienahen Forschungsgemeinschaften zu arbeiten. Die andere Möglichkeit wäre, einen Job in der Privatwirtschaft zu finden. Da ich eine grössere Affinität zum Programmieren als zum Bau von Hardware verspürte, dachte ich mir, dass eine Stelle in der Industrie, die sich auf die Datenanalyse konzentriert, gut zu mir passen würde. Anhand der Ratschläge, die ich erhielt, kam ich zu dem Schluss, dass das Sammeln von Erfahrungen in der Privatwirtschaft längerfristig mehr Möglichkeiten und eine grössere Flexibilität bieten würde.

«Auch wenn man eine akademische Karriere im Sinn hat, ist es hilfreich, sich zu überlegen, was einen sonst noch interessiert, und frühzeitig Kontakte zu knüpfen, um Netzwerke zu schaffen.»
Szymon Hennel, D-PHYS-Absolvent

Gegen Ende meines Bachelorstudiums begann ich mich für Finanzfragen zu interessieren, zunächst, weil ich einige Nachrichten und Meinungsartikel besser verstehen wollte. Ich habe mich immer wieder über verschiedene Themen informiert und es mir zur Gewohnheit gemacht, die Finanzpresse zu lesen. Ausserdem besuchte ich die Vorlesung von Professor Didier Sornette über Finanzmarktrisiken, die mir den Eindruck vermittelte, dass eine Tätigkeit im Bereich des Finanzrisikomanagements eine interessante Kombination aus technischen Herausforderungen, gesellschaftlicher Relevanz und intellektuellem Reiz sein könnte. Dieses themenspezifische Interesse und das erworbene Wissen versetzten mich in eine vergleichsweise gute Position, um nach meiner Promotion eine Stelle im Finanzsektor zu finden. Die Abteilungen für Risikomanagement in der gesamten Finanzbranche wuchsen damals stark (in Erwartung der erwarteten Regulierungsmassnahmen der Behörden), so dass die meisten offenen Stellen für quantitative Arbeit in der Branche im Bereich der Risikomodellierung lagen. Von den Angeboten, die ich erhielt, entschied ich mich für das unternehmensweite Risikomodellierungs-Team der UBS, weil mir die Leute und die Atmosphäre während der Vorstellungsgespräche gut gefielen. Ausserdem gefiel mir, wie die Arbeit Finanz- und Wirtschaftsthemen miteinander verband.

Ich sollte hinzufügen, dass ich vor kurzem meine Stelle bei der UBS aufgegeben habe, um mich auf die Entwicklung meiner eigenen Idee zu konzentrieren und sie in ein Unternehmen zu verwandeln. Dieser Entscheidungsprozess fühlte sich ganz anders an als die Berufswahl nach meinem Promotionsstudium. Ich kann die Kompromisse und Konsequenzen beruflicher Entscheidungen viel fundierter beurteilen, was durch den Rat anderer direkt nach meiner Promotion nicht möglich gewesen wäre. Ich kenne auch D-PHYS-Absolventen, die aus ihrer Forschungsarbeit Start-ups gemacht haben. Gegen Ende meines Doktoratsstudiums schloss ich mich einem Team in der Phase des Geschäftskonzepts der Innosuisse-Ausbildung Startup Campus an, um einen genaueren Blick auf das unternehmerische Umfeld zu werfen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Geschäftsidee, aber ich behielt im Hinterkopf, was ich über das Startup-Ökosystem gelernt hatte.

Aus meiner Erfahrung heraus würde ich Physikstudenten raten, vor dem Abschluss ihres Studiums Praktika in der Industrie zu absolvieren. Auch wenn man mit der Promotion beginnt und eine akademische Karriere im Sinn hat, ist es hilfreich, sich zu überlegen, was einen sonst noch interessiert, und frühzeitig Kontakte zu knüpfen, um Netzwerke und alternative Möglichkeiten zu schaffen.

Szymon Hennel
D-PHYS-Absolvent Szymon Hennel. (Bild: Szymon Hennel)

Was waren Ihre Hauptverantwortlichkeiten und -aufgaben bei UBS?

Lassen Sie mich die typische Arbeit eines Entwicklers von Risikomodellen in einer großen Bank beschreiben, am ehesten in einem Team, das Modelle entwickelt, mit denen die Höhe des Kapitals bestimmt wird, das eine Bank vorhalten muss, anstatt es an Kunden zu verleihen.

In dieser Funktion sind Sie in erster Linie dafür verantwortlich, dass ein bestimmtes Modell zur Verfügung steht. In der Praxis sorgen Sie dafür, dass auf einer speziellen IT-Plattform eine Software läuft, mit der bestimmte finanzielle Verluste berechnet werden können (z. B. wie viel Geld kann im nächsten Quartal verloren gehen, weil Kunden ihre Kredite nicht zurückzahlen können? Wie viel wird die Bank aufgrund von Fehlern bei der Transaktionsverarbeitung verlieren? Und so weiter). Etwa die Hälfte dieser Arbeit besteht in der Programmierung; die andere Hälfte besteht darin, mit verschiedenen Interessengruppen zu sprechen, um Rückmeldungen zum Modell zu erhalten oder notwendige Genehmigungen einzuholen.

Je nach Unternehmen fallen auch die Durchführung von Berechnungen und das Ausfüllen von Berichten, die von den Teams, die das Kapital der Bank verwalten, verwendet oder an die Aufsichtsbehörden übermittelt werden, in Ihren Zuständigkeitsbereich. Manchmal gibt es separate, spezielle Teams, die sich um solche Aufgaben kümmern.

Interessanterweise sind die Banken aufgrund von Vorschriften verpflichtet, separate Teams mit der Validierung von Modellen zu betrauen. Diese Kollegen überprüfen Ihre Arbeit, wobei sie die mathematischen Aspekte, aber auch die administrativen Formalitäten berücksichtigen. Die Banken unterliegen detaillierten Vorschriften, die Ihre tägliche Arbeit beeinflussen. So gibt es beispielsweise klare Regeln dafür, wann die Validierungsteams eingeschaltet werden müssen, was im Idealfall keinen Raum für Unklarheiten lässt.

Wie sieht dann eine durchschnittliche Woche als Risikomodellentwickler aus?

Die Arbeit, die in einer typischen Woche geleistet wird, ist eine Mischung aus kleinen Schritten auf dem Weg zu langfristigen Zielen. Ein langfristiges Ziel kann darin bestehen, eine aktualisierte Modellkalibrierung für eine in einigen Monaten geplante Kapitalüberprüfung bereitzustellen. Zu diesem Zweck müssen Sie zum Beispiel bis Ende der Woche eine Reihe von statistischen Tests durchführen, um zu überprüfen, ob die mathematischen Annahmen Ihres Modells auch mit den neuen Daten erfüllt sind. Dann gibt es Aufgaben, die kurzfristig anfallen: Ein Verwaltungsausschuss hat Fragen dazu, wie sich Ihr Modell auf einen kürzlich erstellten Bericht ausgewirkt hat, eine Aufsichtsbehörde fordert einige Informationen an oder das Modell muss ungeplant aktualisiert werden, weil sich die Bandbreite der Eingabewerte erheblich geändert hat. Neben dieser Arbeit wird Ihr Team nach Möglichkeiten suchen, seine Arbeitsabläufe zu verbessern, z. B. durch die Entwicklung von Tools, die wiederkehrende Aufgaben effizienter machen, oder durch die Einführung neuer IT-Systeme. Innerhalb einer Woche programmieren Sie wahrscheinlich in einer Sprache wie Python oder R, schreiben Berichte oder Modelldokumentationen in Word oder LaTeX und erstellen manchmal PowerPoint-Folien. Ein Teil Ihrer Arbeit zur Quantifizierung von Risiken kann auch eher qualitativer Natur sein, d. h. Sie treffen sich möglicherweise mit Personen aus verschiedenen Bereichen der Bank und berechnen mit deren Hilfe Prognosen auf der Grundlage qualitativer Einschätzungen.

«Ich habe deutlich gespürt, dass mir das durch acht Jahre Physik geprägte analytische Denken bei der Arbeit geholfen hat; indem es mir zum Beispiel aufzeigte, welcher Modellierungsansatz wert ist, weiter verfolgt zu werden.»
Szymon Hennel, D-PHYS-Absolvent

Aufgaben, die sich über längere Zeiträume erstrecken, sind die Aktualisierung bestehender Modelle (z. B. im Hinblick auf neue Daten oder geänderte regulatorische Erwartungen) und die Erstellung neuer Modelle. So haben die Aufsichtsbehörden vor kurzem damit begonnen, von den Banken zu verlangen, dass sie den Klimawandel in ihr Kapitalmanagement einbeziehen: Dies macht eine ganz neue Klasse von Finanzmodellen erforderlich.

Wie hat Sie Ihr Physikstudium auf Ihre Tätigkeit bei der UBS vorbereitet? Was schätzen Sie aus beruflicher Sicht an Ihrem Studium am meisten?

Die ausgezeichneten analytischen Fähigkeiten lassen sich am direktesten im Beruf nutzen. In der Physik denkt man in Strukturen und Konzepten: Gruppen, Darstellungen, Komponenten, Symmetrien, Kritikalität, Skaleninvarianz usw. Diese Denkweise ist auf jedes andere komplexe System mit Wechselwirkungen übertragbar. Ich habe deutlich gespürt, dass mir das durch acht Jahre Physik geprägte analytische Denken bei der Arbeit geholfen hat; indem es meine Intuition bei der Untersuchung eines Datensatzes leitete oder mir aufzeigte, welcher Analyse- oder Modellierungsansatz nützliche Ergebnisse liefern kann und wert ist, weiter verfolgt zu werden.

Eine weitere wichtige Fähigkeit ist die allgemeine Datenanalyse. Python und R werden in der Risikomodellierungsbranche häufig verwendet. Meine Erfahrungen bei der Arbeit mit experimentellen Daten (Auswahl von Datencontainern, Anwendung verschiedener Visualisierungsmethoden, Bereinigung von Daten mit Schwerpunkt auf der kritischen Bewertung potenzieller Ausreisser usw.) konnte ich direkt auf die Modellierung von Finanzdaten anwenden. In diesem Sinne war mir meine Arbeit bei der UBS vom ersten Tag anvertraut. Als Schatzmeister und späterer Präsident des Vereins Akademischer Mittelbau am Physikdepartement konnte ich auch einige Erfahrungen im Stakeholder-Management sammeln, was in der Privatwirtschaft ein wichtiger Aspekt ist.

Ein entscheidender Aspekt ist, dass man lernt, zu lernen. Um sich in einer Vielzahl von Themen zurechtzufinden, braucht man nicht nur intellektuelle Fähigkeiten: Was hilft, ist eine erlernte Methodik für die Informationssuche und das Setzen von Prioritäten. In der Unternehmenswelt hilft dieser Ansatz, eigenverantwortlich zu arbeiten, Aufgaben selbstständig zu übernehmen und gut einzuschätzen, wann die Einbeziehung anderer notwendig ist.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Kilian Kessler

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