Die Kaskade zur Kritikalität
Institute for Theoretical Physics (ITP)
Eine Kombination von theoretischen und experimentellen Erkenntnissen enthüllt einen neuartigen Mechanismus, durch den Kritikalität in quasiperiodischen Strukturen entsteht — ein Ergebnis, das einen einzigartigen Einblick in die Physik zwischen Ordnung und Unordnung bietet.
Quasiperiodische Strukturen sind geordnet, aber nicht streng periodisch, und sie sind die Quelle aussergewöhnlicher Schönheit in Natur, Kunst und Wissenschaft. Für Physiker ist quasiperiodische Ordnung sowohl ästhetisch als auch intellektuell ansprechend. Zahlreiche physikalische Prozesse, die in periodischen Strukturen wohlbekannt sind, ändern ihren Charakter grundlegend, wenn sie in quasiperiodischen Systemen ablaufen. Fügt man dann noch Quantenmechanik hinzu, dann können bemerkenswerte neue Phänomene entstehen, die noch nicht vollständig verstanden wurden. In der Fachzeitschrift Nature Physics präsentiert nun ein internationales Team unter der Leitung von Oded Zilberberg vom Institut für Theoretische Physik der ETH Zürich und der CNRS-Forschenden Jacqueline Bloch von der Université Paris-Saclay und Alberto Amo von der Universität Lille, vielseitige theoretische und experimentelle Werkzeuge zur Erforschung von Quantensystemen in einer Vielzahl eindimensionaler quasiperiodischer Umgebungen — und demonstrieren die Stärke ihres Ansatzes, um neuartige physikalische Mechanismen zu erklären.
Komplexe Schönheit
Die Essenz und Schönheit quasiperiodischer Strukturen kann man erahnen, wenn man sich anschaut, wie ein Boden mit Fliesen belegt werden kann. Ein Boden kann leicht ohne Lücken mit identischen Platten von beispielsweise dreieckiger, quadratischer oder sechseckiger Form gefliest werden, wobei ein einfaches Muster wiederholt wird. Eine Oberfläche kann aber auch vollständig mit einem Muster bedeckt werden, welches sich nicht wiederholt, zum Beispiel mit nur zwei Arten von Rhomboidkacheln, wie der englische Physiker und Mathematiker Roger Penrose gezeigt hat (siehe Abbildung). In diesem Fall kann das Muster selbst dann nicht durch Translation und Rotation mit sich selbst überlagert werden, wenn lokale Konfigurationen an verschiedenen Stellen auftreten. Diese Muster sind damit irgendwo zwischen periodischen und zufällig geordneten Strukturen.
In dieser «Zwischenwelt» gibt es faszinierende Physik zu erforschen. In einem perfekt geordneten Kristall, zum Beispiel, ermöglicht die Periodizität eine wellenförmige Ausbreitung von Elektronen durch das Material, beispielsweise in einem Metall. Wenn die kristalline Perfektion durch die Einführung von Störstellen durchbrochen wird, dann ändert sich das Verhalten. Mit wenigen Störstellen leitet das Material immer noch, jedoch weniger gut. Bei einem gewissen Mass an Störstellen hören die Elektronen jedoch auf, sich auszubreiten und werden kollektiv lokalisiert. Dieses Phänomen ist als Anderson-Lokalisierung bekannt und wurde für periodische Gitter erstmals 1958 beschrieben (vom Physik-Nobelpreisträger Philip Anderson, der am 29. März dieses Jahres verstarb). Wie sich solche Prozesse in quasiperiodischen Strukturen abspielen, ist jedoch weiterhin der Gegenstand aktiver Forschung.
Aufschlussreiche Interpolation
Für quasiperiodische Systeme wurde eine breite Palette unkonventioneller physikalischer Phänomene beschrieben, es gibt aber keinen übergreifenden Rahmen, um die Wellenausbreitung in quasiperiodischen Strukturen zu beschreiben. Es gibt jedoch verschiedene Modelle, die es ermöglichen, bestimmte Aspekte des Transports und der Lokalisierung zu untersuchen. Zwei paradigmatische Beispiele für solche Modelle sind das Aubry-André- und das Fibonacci-Modell, die jeweils unterschiedliche physikalische Phänomene beschreiben, nicht zuletzt in Bezug auf Lokalisierungseigenschaften.
Im Aubry-André-Modell gibt es zwei unterschiedliche Parameterbereiche, in denen sich die Teilchen entweder in einem «ausgedehnten» oder einem lokalisierten Zustand befinden können (im gleichen Sinne, wie sich Elektronen entweder durch ein Material ausbreiten oder in einem isolierenden Zustand sein können). Im Fibonacci-Modell gibt es dagegen nicht einen speziellen kritischen Punkt, der die beiden Regime trennt. Stattdessen befindet sich das System für jeden Parameter in einem solchen kritischen Zustand zwischen lokalisiert und ausgedehnt. Trotz ihres gegensätzlichen Verhaltens sind die beiden Modelle miteinander verbunden und können kontinuierlich ineinander umgewandelt werden. Dies hatte Zilberberg, der damals am Weizmann Institute of Science in Israel arbeitete, 2012 in einer bahnbrechenden Arbeit mit seinem Kollegen Yaacov Kraus gezeigt. Es blieb die Frage, wie die beiden so unterschiedlichen Lokalisierungsverhalten miteinander verbunden sind.
Ein Stapel neuer Erkenntnisse
Um diese Frage zu beantworten, haben sich Zilberberg und sein Doktoranden Antonio Štrkalj sowie sein ehemaliger Postdoc Jose Lado (jetzt an der Aalto University) mit den CNRS-Experimentatoren Jacqueline Bloch und Alberto Amo und ihrem Doktoranden Valentin Goblot (jetzt bei der Firma STMicroelectronics) zusammengetan. Die französischen Physikerinnen und Physiker hatten eine photonische Plattform perfektioniert — sogenannte Hohlraumpolaritonengitter — in der Licht durch Halbleiternanostrukturen geleitet werden kann und dabei Wechselwirkungen auftreten, die denen ähneln, die auf Elektronen wirken, welche sich durch einen Kristall bewegen. Wichtig ist, dass sie Wege gefunden haben, quasiperiodische Modulationen in ihren photonischen Drähten zu erzeugen, die es ihnen ermöglichten, das Kraus–Zilberberg-Modell erstmals überhaupt experimentell zu implementieren. Optische Spektroskopieexperimente, die lokal an diesen photonischen Quasikristallen durchgeführt werden, bieten die einzigartige Möglichkeit, die Lichtlokalisierung in den Systemen direkt abzubilden.
Durch die Kombination ihrer theoretischen und experimentellen Werkzeuge konnten die Forschenden verfolgen, wie sich das Aubry–André-Modell entwickelt, wenn es zum Fibonacci-Modell transformiert wird und dadurch vollständig kritisch zu werden. Entgegen der naiven Erwartung zeigte das Team, dass dies nicht kontinuierlich geschieht, sondern durch eine Kaskade von Lokalisierungs- und Delokalisierungsübergängen. Ausgehend von einer Region des Aubry–André-Modells, in der Partikel lokalisiert sind, zum Beispiel, verschmelzen bei jedem Schritt des Kaskadenprozesses Energiebänder in einem Phasenübergang, wo die Teilchen sich durch das Material ausbereiten können. Auf der anderen Seite des Übergangs verdoppelt sich die Lokalisierung ungefähr, wodurch die Zustände des Aubry–André-Modells allmählich zur vollen Kritikalität gelangen, wenn es sich in das Fibonacci-Modell verwandelt.
Die Situation ähnelt etwas dem, was mit einem Stapel von Reiskörnern passiert, wenn nacheinander weitere Körner hinzugefügt werden. Für einige Zeit bleiben neu hinzugefügte Körner dort liegen, wo sie gelandet sind. Sobald jedoch die Neigung am Landeplatz eine kritische Steilheit überschreitet, wird eine lokale Lawine ausgelöst, die zu einer Umlagerung von Teilen des Reisstapels führt. Wird der Vorgang wiederholt, dann ergibt sich schliesslich ein stationärer Stapel, bei dem ein einziges zusätzliches Korn eine Lawine auf jeder der relevanten Größenskalen auslösen kann — ein „kritischer“ Zustand. In den quasiperiodischen Systemen ist die Situation aufgrund der Quantennatur der beteiligten Teilchen komplexer, was bedeutet, dass sich diese nicht wie Teilchen bewegen, sondern wie Wellen interferieren können. Aber auch in diesem Fall erfolgt die Entwicklung zu einem insgesamt kritischen Zustand wie im Reisstapel durch eine Kaskade diskreter Übergänge.
Mit der theoretischen Beschreibung und experimentellen Beobachtung dieser Kaskade zur Kritikalität haben die Teams erfolgreich Quantenphänomene in zwei paradigmatischen Modellen quasiperiodischer Ketten verknüpft und so einzigartige Einblicke in die Entstehung von Kritikalität gewonnen. Darüber hinaus haben sie eine flexible experimentelle Plattform für weitere Studien entwickelt. Die Bedeutung dieser Experimente geht weit über Lichteigenschaften hinaus. Das Verhalten von Elektronen, Atomen und anderen Quantenteilchen wird von derselben Physik bestimmt, die zum Beispiel neue Wege der Quantenkontrolle in elektronischen Bausteinen inspirieren könnte. So wie die Anziehungskraft quasiperiodischer Muster über Disziplinen hinweg wirkt, so scheint das Potenzial, wissenschaftliche und letztendlich technologische Fortschritte anzuregen, ähnlich grenzenlos zu sein.
Literaturhinweis
Goblot V, Štrkalj A, Pernet N, Lado JL, Dorow C, Lemaître A, Le Gratiet L, Harouri A, Sagnes I, Ravets S, Amo A, Bloch J, Zilberberg O. Emergence of criticality through a cascade of delocalization transitions in quasiperiodic chains. Nature Physics externe Seite doi:10.1038/s41567-020-0908-7 (2020).