Der richtige Umgang mit fragilen Zuständen
Institute for Theoretical Physics (ITP)
Das Konzept der «fragilen Topologie» gibt seit seiner Entstehung vor zwei Jahren Rätsel auf. Zwei Teams, eines unter der Leitung von ETH-Physikern, haben nun einen umfassenden theoretischen und experimentellen Rahmen entwickelt, um die Essenz des Konzepts zu verstehen — und um Wege zu finden, wie es möglicherweise in Anwendungen genutzt werden kann.
«Die richtigen Gesetze der Quantenmechanik zu kennen, bedeutet noch nicht, dass man all die seltsamen Phänomene versteht, die sie zulässt. Was gelernt wurde ist, dass sie ‹wirklich coole Dinge› machen kann, die nie zuvor erahnt wurden, und eines Tages tatsächlich praktisch nützlich sein könnten.»
Dies waren die Worte von Duncan Haldane beim Nobelbankett 2016, nachdem er zusammen mit seinen Kollegen David Thouless und Michael Kosterlitz den Nobelpreis für Physik überreicht bekommen hatte. Das Trio wurde für wegweisende Arbeiten auf einem Gebiet ausgezeichnet, welches heute als topologische Physik bekannt ist. In den wenigen Jahren seit diesem Bankettabend hat sich das Feld in einem enormen Tempo weiter vergrössert und auf dem Weg wurden viele weitere «seltsame Phänomene» entdeckt. Der Reichtum und die Vielfalt der Entdeckungen machen es umso wichtiger, übergreifende Konzepte zu haben, die ein besseres Verständnis dieser Phänomene ermöglichen und im Idealfall praktische Wege aufzeigen, wie die Phänomene gesteuert und später in Anwendungen genutzt werden können. In zwei Artikel, die heute in der Fachzeitschrift Science [1,2] veröffentlicht wurden, präsentieren zwei internationale Forscherteams theoretische und experimentelle Arbeiten, die genau so einen Rahmen für einen der wegweisenden Effekte der topologischen Physik liefern. Eines der beiden Teams wurde von Dr. Sebastian Huber vom Institut für Theoretische Physik an der ETH Zürich geleitet.
Zunehmend seltsame Phänomene
Eines der «wirklich coolen Dinge», an die Haldane wahrscheinlich gedacht hat, sind Materialien, die als topologische Isolatoren bekannt sind. Diese besitzen die Eigenschaft, dass sie keine elektrischen Ladungen durch ihr Inneres fliessen lassen — was sie zu Isolatoren macht —, aber verblüffenderweise können sich auf ihrer Oberfläche Ladungen im Wesentlichen ungehindert bewegen. In jüngerer Zeit stellte sich heraus, dass topologische Isolatoren weit davon entfernt sind, «exotisch» zu sein. Numerischen Studien zufolge könnte etwa ein Viertel aller nichtmagnetischen Materialien zu dieser Klasse gehören. Was genau diese «Klasse» ausmacht, das wurde jedoch immer wieder in Frage gestellt. Am deutlichsten wahrscheinlich in einer Reihe theoretischer Arbeiten, die seit 2018 entstanden sind. Diese haben das Konzept der «fragilen Topologie» eingeführt. Fragile topologische Isolatoren haben viele Gemeinsamkeiten mit ihren «stabilen» Gegenstücken, aber ohne die so herausragende Eigenschaft, an der Oberfläche perfekt leitend zu sein. Wenn man Materialien mit fragilen Zuständen einbezieht, dann könnten topologische Isolatoren sogar die häufigste Form von Isolatoren werden. Mit solchen Aussichten am Horizont haben fragile topologische Isolatoren wohl manche Physikerin und manchen Physiker den Schlaf geraubt.
Fragile Topologie im Griff
Daher sorgt es nun wohl für Aufsehen, wenn Andrei Bernevig und Zhi-Da Song von der Princeton University (USA) und Luis Elcoro von der Universität des Baskenlandes (Spanien) in einem der beiden Science-Artikeln [1] die theoretischen Werkzeuge liefern, um zu verstehen, wie die Eigenschaften im Innere und auf der Oberfläche von topologischen Isolatoren, einschliesslich solchen der fragilen Art, zusammenhängen. Wichtig ist, dass sie Möglichkeiten aufzeigen, wie anhand ihrer Erkenntnisse festgestellt werden kann, ob ein bestimmtes Material ein fragiler topologischer Isolator ist oder nicht.
An einem kristallinen Festkörper die Art von Transformationen durchzuführen, die Bernevig und seine Mitarbeiter vorschreiben, wäre jedoch in der Praxis äusserst schwierig. Dank Sebastian Huber und seiner Gruppe für die Theorie der kondensierten Materie und Metamaterialien an der ETH Zürich war dennoch eine sofortige experimentelle Umsetzung der theoretischen Konzepte möglich. Huber ist ein Pionier, wenn es darum geht, Konzepte im Zusammenhang mit der Topologie quantenmechanischer Systeme (wie etwa Elektronen in einem Kristall) auf klassische Systeme mit mechanischen oder Schallwellen zu übertragen. Diese klassichen Systeme weisen dann dieselben topologischen Eigenschaften auf wie die entsprechenden Quantensysteme. Damit ist das Tor offen zur Erforschung von topologischen Phänomenen jenseits der Grenzen der Quantenmechanik, die nie zuvor erahnt wurden (um nochmals auf Haldanes Worte zurückzugreifen).
Eine klassische Lösung
Gemeinsam mit seinem Doktoranden Valerio Peri und weiteren Teammitgliedern sowie in Zusammenarbeit mit Kollegen in Israel, China und Bernevig in Princeton führte Huber Experimente mit einem sogenannten akustischen Metamaterial durch, wie sie im zweiten Science-Artikel [2] berichten. Bei dieser im 3D-Druck hergestellten Struktur haben die Elementarzellen keine atomaren, sondern zentimetergrosse Abmessungen (siehe Abbildung). Mit einer solch raffinierten makroskopischen Struktur bot sich die Möglichkeit, die Eigenschaften des Materials und insbesondere die Art und Weise, wie sich die Luftwellen durch das Material ausbreiten können, fein abzustimmen.
Diese exquisite Kontrolle ermöglichte es dem Team, nicht nur das Auftreten fragiler topologischer Zustände in ihrem Metamaterial eindeutig nachzuweisen, sondern zum ersten Mal in irgendeinem System zu zeigen, dass das abstrakte Konzept der fragilen Topologie direkt zu eindeutigen experimentellen Effekten führen kann. Und mit möglichen Anwendungen in der Akustik oder Photonik — die gleichen Konzepte gelten für Lichtwellen — kann man sich auf weitere spannende Entwicklungen in den kommenden Jahren freuen.
Literaturhinweise
1. Song Z, Elcoro L, Bernevig BA: Twisted bulk-boundary correspondence of fragile topology. Science 367, 794 (2020). externe Seite DOI:10.1126/science.aaz7650 externe Seite Preprint
2. Peri V, Song ZD, Serra-Garcia M, Engeler P, Queiroz R, Huang X, Deng W, Liu Z, Bernevig BA, Huber SD: Experimental characterization of fragile topology in an acoustic metamaterial. Science 367, 797 (2020). externe Seite DOI: 10.1126/science.aaz7654 externe Seite Preprint